Klopfer!
  Als wir träumten
 

Meyers Romanerstling ist die sächsische Antwort über Leipzigs Submilieus auf Irvine Welshs "Trainspotting" über das schottische Edinburgh -frech, rotzig, rauh, dreckig, vulgär und desillusionierend, ein Buch voll von schmutzigem Sex, von Gewalt und Kriminalität. Von Verdorbenheit. Und ein Werk, das einen hineinsaugt und erst auf Seite 518 am Ende wieder ausspuckt. Ein Panoptikum Leipziger Verlierer, das wehtut und fasziniert, denn Meyer zeichnet seine Figuren genau, quälend genau. Erzählt wird nichtchronologisch von den vergeblichen Versuchen der Protagonisten, ihren Platz im Leben zu finden. Meyer lässt sie alle scheitern, manche gar krepieren; sie zerbrechen an Alkohol, Drogen, an elterlicher Gewalt und den Rivalitäten diverser unterschiedlich orientierter Gangs. In der Bronx kann es nicht katastrophaler zugehen.
Held und Ich-Erzähler Daniel Lenz, von allen nur Danie genannt (der Nachname taucht nur zweimal auf, in Episoden aus der Schulzeit), streift mit dem Leser rastlos durch illegale Clubs, versiffte Kneipen, Puffs, Knast, Abrissviertel und Swinger-Clubs. Dass er den Leser dabei gelegentlich auf die falsche Fährte führt, wird offensichtlich, wenn er etwa den Unfalltod eines Freundes in drei aufeinanderfolgenden Versionen erzählt oder auch sonst gelegentlich verschiedene Blicke auf ein und dieselbe Handlung wirft. Dabei bleibt unklar, was tatsächlich passiert ist und wo Danie flunkert und aufträgt. Denn dass seine Helden stets dick auftragen, um Helden zu sein und sich gegen die zu behaupten, die noch dicker auftragen, zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte. Und wenn das Glück schon nicht kommen mag, wird es eben herbeigeträumt.
Der Roman beginnt, wollen wir das Geschehen zeitlich sortieren, als die DDR in den letzten Zügen liegt, und wirft Schlaglichter auf eine eigenartige Zeit totgelaufener Rituale und der mumifizierter Worthülsen, die jedem "gelernten DDR-Bürger" nur zu gut in Erinnerung sein dürften, auf eine Katastrophenschutzübung in der Schule etwa samt parteipolitischem Brimborium und Floskelgestelze oder auf die grotesk naive Teilnahme der Jungs an einer der Montags-Demos.
"Als wir träumten" - das bedeutet auch: als die Protagonisten von Drogen und Alkohol umnebelt durch ihr Leben und immer tiefer in den Dreck hinein gezogen werden. Eindrücklich ist beispielsweise die Schilderung eines der ersten Brüche von Danie und Mark, der in sinnloser Zerstörungswut endet oder die Berichte von den "selbstlosen" Hilfsaktionen bei der massenhaft Grog und Apfelschnaps trinkenden, nahezu blinden Frau Böhme, um die sich gleich mehrere Gangs prügeln, weil es dort Geld zu klauen gibt ("Hier ist besetzt, is nicht euer Revier, is unsere Alte.").
Dem Leser wird bei dieser atemlosen Innenschau nichts geschenkt. Und doch verfällt Meyer nicht in die Rührseligkeit manches Ostdeutschen, früher sei alles besser gewesen, denn er zeigt, dass das Scheitern der Akteure sein Wurzelwerk tief in der DDR-Vergangenheit hat. Dass der Ich-Erzähler manche DDR-Interna selbstverständlich voraussetzt und nicht mit dem Kniff oberlehrerhaften Herausgebertums in Fußnoten erklärt, wie es weiland Ingo Schulze getan hat, macht es einem Leser, der den Osten der Republik nicht kannte, vermutlich schwer. Doch seis drum: "Als wir träumten" will kein Geschichtsbuch sein, sondern ein rastloser Abriss der Zeit, als Danie und die anderen träumten von ihrem kleinen Glück und sich auch glaubten.
Aufregende Literatur präsentiert immer auch das Unerwartete, und Meyer schafft es, aus diesem Unerwarteten das Komische herauszuarbeiten. So beschreibt er, wie ausgerechnet die "hundertdreißigprozentige" Gruppenratsvorsitzende aus der DDR ausreist oder wie Danie beim Ableisten von Sozialstunden nach der Wende den Parteisekretär der Schule als ABMler wiedertrifft.
Es ist ein großer Verdienst des Autors, dass der sezierende Millieublick keine Karrikaturen oder Abziehbilder fokussiert, sondern dass er seine Protagonisten stets ernst nimmt. Völlig zu Recht war er für den Preis der Leipziger Buchmesse 2006 nominiert. Für ein unglaubliches, ein trauriges, ein komisches Buch.
Die Themen des Romans sind Erwachsen werden, Wendezeit, Boxen, Freundschaft, Knast, Drogen, DDR, Verlust, Alkohol, Jugend, Rebellion und Kleinkriminalität. Er wird zu den großen Wenderomanen gezählt und ist doch einzigartigartig da Clemens Meyer die Zeit kurz und nach der Wende eindringlich beschreibt ohne Ostalgie und Kitsch."Als wir träumten" ist ein großartiges, collageartiges Netz von unchronologisch aneinander gereihten Episoden in short-story-Form. Es wird ohne moralischen Zeigefinger erzählt. Beschrieben wird die Jugend der Freunde Daniel, Rico, Mark, Paul und Walter im Leipziger Stadtteil Reudnitz.
Die Collage deute ich als Form die der Erinnerung gleicht, da der Erzähler vergisst, Anekdoten umgedichtet werden und die Stories sich durcheinander aneinanderfügen. Die Freunde feiern, klauen Autos, trinken, nehmen Drogen, gehen in den Knast, prügeln sich, organisieren illegale Diskos, durch Zufall auf Montagsdemo, gehen zum Fußball, erleben Fangewalt, einer von ihnen ist Boxer der nach oben will, treffen ihre Kinderfreundin im Bordell wieder, Umfeld ist der Rand der Gesellschaft.
Es ist die Geschichte ihres Scheiterns, sie behalten bis zum Schluss ihre Träume, haben ihre Freundschaft und Hoffnung auf ein besseres Leben. Es sind Menschen die sich im Dunklen und Dreckigen - der Halbwelt - bewegen. Es überleben nur zwei der Freunde.
Immer wieder werden Zeitsprünge in Vergangenheit und Zukunft vorgenommen, die ohne Ankündigung erfolgten. Ich war oft am Überlegen in welcher Zeit der Gesamthandlung die jeweilige Episode spielt und überlegte was vorher und danach war. Es destilliert sich beim Meditieren über dieses "Mosaik" ein Ergebnis heraus a la: "Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile." Der Leser wird dadurch aktiver Mitdenker und in die Handlung gezogen.
Meyers Motivation für den Roman war wie er in einem Interview sagte, dass Poesie in Rosengärten und Auenlandschaften zu finden nichts Außergewöhnliches sei, er wolle Poesie auf Müllhalden und Hinterhöfen, dreckigen und perspektivlosen Vierteln suchen und finden in seinen Geschichten, bei Verlierern und Benachteiligten .

 
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