Klopfer!
  Moby-Dick
 

Der neunhundert Seiten starke Roman "Moby Dick" vom US-Amerikaner Herman Melville gilt als das bedeutendste Prosawerk des amerikanischen Symbolismus. Der monumentale Roman verbindet Abenteuergeschichte, Walkunde und philosophische Reflexion. Und zeigt das zutiefst menschlich-existentielle des Walfangs.


Der Seemann Ismael, dessen Vorgeschichte und Lebenssituation nicht näher beleuchtet werden, beschließt wieder einmal zur See zu fahren, um »den Trübsinn zu verjagen«. Er reist zuerst nach New Bedford (Massachusetts), dem Zentrum des amerikanischen Walfangs. Dort teilt er notgedrungen und anfangs gequält in der Herberge das Bett mit dem Polynesier Quiqueg, der jedoch rasch zu seinem Busenfreund wird. Bald fahren die Beiden weiter nach Nantucket, dem älteren Walfängerhafen und Ausgangsort des amerikanischen Walfangs, wo sie auf der »Pequod« anheuern.
Erst als sie bereits einige Tage auf See sind, bekommen sie ihren Kapitän zu Gesicht: Ahab. Seitdem dieser im Kampf mit dem weißen Wal "Moby Dick" ein Bein verloren hat, ist er voller Hass, verfolgt nur ein Ziel: Rache an dem Tier zu nehmen. Es gelingt ihm, seine Mannschaft einschließlich des zunächst skeptischen und religiösen Maates Starbuck für dieses Ziel zu begeistern.
Monatelang kreuzt die »Pequod« auf der See über die Fanggebiete, fängt Wale und füllt ihre Öllager, begegnet anderen Schiffen und entkommt glücklich Unwettern ebenso wie Piraten. Im Pazifik trifft sie schließlich auf "Moby Dick", den weißen Wal. Die Jagd dauert ganze drei Tage. Obwohl "Moby Dick" ein Fangboot nach dem anderen zerreißt und sogar die »Pequod« zum Sinken bringt, hält Ahab an seinem einzigen Ziel fest, bis er von seinem eigenen Harpunenseil in die Tiefe gezogen wird. Ohne Wiederkehr! Nur Ismael überlebt die Katastrophe – an Quiquegs Sarg geklammert, den dieser für sich in einer düsteren Vorahnung gezimmert hat.


Der in 135 Kapitel und einen Epilog gegliederte Roman handelt nicht in erster Linie von der Jagd auf Moby Dick – die Schilderung dieses Ereignisses nimmt nur die letzten drei Kapitel ein. Im Vordergrund stehen das archetypische bzw. urbildliche Motiv der »quest«, der Suche, und zwei Figuren, die unterschiedliche Arten der Suche verkörpern: der aus seinem langweiligen Leben ausbrechende und abenteuersuchende Ich-Erzähler Ismael und der dämonische, getriebene, gezeichnete Kapitän Ahab.
Die »quest« lässt sich verschieden interpretieren, etwa mythologisch als Rebellion gegen die göttliche Ordnung, als Hybris im christlichen Sinn, psychologisch als Erkundungsfahrt ins Unbewusste oder philosophisch als Suche nach dem Wesen der Dinge. Ein dichtes Netz entsprechender Anspielungen und Zitate überzieht den Roman, der dadurch einen enzyklopädischen Zug erhält.
Enzyklopädisch ist auch Ismaels Art der Suche; er verkörpert ein bemühtes Expertentum, das dennoch nichts versteht. Aus dem Lehrzimmern heraus den Seemännern nachspürt. Seinen Bericht über die Fahrt der »Pequod« unterbricht er immer wieder mit verarbeitungstechnischen, naturwissenschaftlichen, historiografischen und mythologischen Ausführungen über den Wal. Er beherrscht das Material jedoch nicht wirklich, sondern imitiert nur die Sprachen der verschiedenen Wissensgebiete. Melville erweist sich in diesen Kapiteln als Parodist vom Rang eines Laurence Sterne oder Jean Paul.
Ahabs Art der Suche hingegen ist die Aktion; er will handeln, »die Maske [des Sichtbaren] zerschlagen« und stürzt sich so ins Verderben. Melville setzt die verschiedensten Mittel ein, um der Figur titanische Dimension zu verleihen: Anspielungen auf Prometheus und Faust, bühnenhafte Szenen (inklusive Regieanweisungen), Monologe im Stil von Shakespeare und eine heroisch-pathetische Sprache.
Beide Suchenden scheitern, doch Ismael gelangt schließlich zu der Einsicht: »…ich kenne ihn [den Wal] nicht und werde ihn niemals kennen.« Er kapituliert vor dem »nie zu fassenden Trugbild des Lebens«, das er in der Geschichte von Moby Dick gespiegelt sieht. Philosophisch verstanden, plädiert der Roman also für eine agnostizistische Haltung.


Der Ich-Erzähler wird verkörpert von Ismael. Diese Form wird jedoch immer wieder durchbrochen. Und oft durchsetzt mit wissenschaftlichen Exkursen, Essays und Traktaten. Des weiteren mit dramatischen Szenen, die wie im Theater Regieanweisungen enthalten. Außerdem durchgehend dialogisch gestaltet sind.
In den erzählerischen und essayistischen Abschnitten gibt es oft lange, verschachtelte Satzperioden, die von zahlreichen literarischen und biblischen Anspielungen durchzogen sind und häufig in komplexen Metaphern enden. Melville bedient sich dabei vielfältiger, stilistischer Mittel. Kombiniert mehrere Fachsprachen - wie die des Walfangs, der Seefahrt, der religiösen, wissenschaftlichen und lyrischen Sprache und einer Reihe von Dialekten und Milieusprachen miteinander Der Sprachstil des Romans lässt sich vergleichen mit der facettenreichen und bunt zusammengewürfelten Mannschaft der "Pequod". Zusammengehalten durch das Ziel der Reise - die Jagd auf den Weißen Wal. Neuere Sichtweisen sehen das Werk als eine Mischung aus Abenteuerroman, neubarocke Allegorie und dem grossen amerikanischen Roman. Ein archaisches und zugleich modernes Werk.


Zu Lebzeiten Melvilles erhielt "Moby Dick" nur geteilte Zustimmung. Nicht alle Leser verstanden sogleich die komplexe Struktur des Werks, manche betrachteten es als formlos, einige erklärten den Autor schlicht für »verrückt«. Heute gilt "Moby Dick" als Weltliteratur. Und dass berechtigt. Obwohl oder besser gerade deswegen weil der Text mit heutiger Sichtweise sehr politisch unkorrekt ist, vor allem für Tierschützer - im Besonderem Walschützer, was ich sehr gut nachvollziehen kann. Der Text zeigt, wie sehr sich die Zeiten geändert haben. Gleiches gilt für Mark Twains Tom Sawyer und Huckleberry Finn, die unsere lieben Pädagogen am liebsten durchgängig zensieren würden, weil sie nicht dem Zeitgeist entsprechen. Und statt des Walfangs der Farbige noch der Neger halb aus der Sklavenzeit ist und die Jugendlichen alles machen außer fleißig lernen und ihren Pflichten nachkommen, die die Gesellschaft für sie vorsieht. Außerdem zeigt der Roman wie wenig Kulturunterschiede bei hoher Resonanz zwischen Charakteren Freundschaften im Wege stehen. Der Charakter muss immer Vorrang vor der Kultur haben, immer!

 
  © seit 2009 bei Christian Klopfer