Klopfer!
  Wir
 
Hauptgegenstand des Dystopieromans "Wir" vom Russen Jewgeni Samjatin ist die düstere Zukunftsvision einer kollektivistischen, mechanischen Zivilisation und Gesellschaft, welche die Menschen um des »Glücks« willen ihrer individuellen Freiheit, ihres Charakterstrebens und ihrer Einzigartigkeit beraubt. Das allgemeine Glück soll durch maximale Gleichschaltung der Menschen erreicht werden, man glaubt dass völlige Gleichheit den Neid als Quelle des Unglücks abschaffe; eine weitere Barriere auf dem Weg zum »hundertprozentigen Glück« scheint die irrationale Fantasie der Menschen zu sein – erst ihre Beseitigung werde die Individuen endgültig "befreien", in restlos glückliche »menschenähnliche Traktoren« umwandeln. Zuweilen als Schmähschrift gegen die sozialistische Gesellschaft des "Neuen Menschen" gedeutet, zielt der Roman wesentlich tiefgehender – es geht um die Gefahr, die von jedem totalitären System ausgeht. Dass die alleinige Weisheit für sich beansprucht und glaubt das Beste für alle Menschen darzustellen. Diese Hybris, die allen mit sich unversöhnten Systemen systemimmanent anheimwohnt! Beweise zeigt die Welt zuhauf. Was immer mit missionarischen Eifer, wie der Osten und Westen im Kalten Krieg, einhergeht. Hugh, ich habe gesprochen...

Entstehung:
Samjatin schuf den Roman schon 1920 und versuchte erfolglos, ihn in der damaligen Sowjetunion veröffentlichen zu lassen. 1924 erschien die englische Übersetzung; 1927 folgte eine Übersetzung ins Tschechische, 1929 ins Französische. Die Prager russische Emigrantenzeitschrift Volja Rossii (Russlands Freiheit) publizierte 1927 Auszüge des Romans als vermeintliche Rückübersetzung aus dem Tschechischen und Englischen. Die erste russische Ausgabe erschien 1952 in New York.

Inhalt:
Die Handlung spielt sich in ferner Zukunft in einem totalitären »Einheitsstaat« ab. Die gleichgeschalteten Menschen tragen Nummern, keine Namen, existieren in gläsernen Häusern, führen ein streng reglementiertes Leben. Der vom »Wohltäter« und von den »Wächtern« geführte Staat, dieser Leviathan Hobbes', ist von einer »grünen Mauer« umgeben, hinter der sich das Reich der Waldmenschen im Verein mit der Natur befindet. Der Held und Ich-Erzähler, D-503, existiert als Mathematiker und Konstrukteur des Raumschiffs »Integral«, mit dem nun auch die »unendliche Gleichung des Weltalls integriert« werden soll. Als D-503 sich verbotenerweise in die geheimnisvolle I–330 verliebt, wankt und schwankt seine mathematisch geordnete Welt aus den Fugen. Ein Arzt leitet aus dem Befund die Diagnose her: »Es steht schlecht um Sie! Bei Ihnen hat sich offenbar eine Seele gebildet«. Durch die entflammte Liebe zu der Frau, die sich als eine Oppositionelle erweist, willigt er ein, die »Integral« zu sabotieren. Er scheitert – die »Wächter« von der Staatssicherheit sind vorgewarnt. Die DDR-Bürger wissen noch was so ein Apparat alles kann den jedes Regime braucht. Am nächsten Tag wird die »grüne Mauer« gesprengt; der Dissidentenaufstand beginnt. Der Held trifft I-330 ein letztes Mal, es bleibt offen, beruhte seine Liebe auf Gegenseitigkeit oder benutzte sie ihn nur. Nach operativer Entfernung der Fantasie schaut D-503 ungerührt zu, wie die festgenommene ehemalige Geliebte im »Gas-Zimmer« gefoltert wird, um am nächsten Tag hingerichtet zu werden. Er hofft nun, dass der Aufstand niedergeschlagen wird, denn »die Vernunft muss siegen«.

Aufbau:
Der Roman baut sich aus 40 tagebuchartigen Aufzeichnungen des Ich-Erzählers auf. Die Notizen verdeutlichen seine allmähliche seelische Veränderung – vom glühenden Anhänger des Einheitsstaats hin zum »Verbrecher« an diesem Staat (diesem Gleichheitsorgan), bis zur allerletzten Notiz, die beweist, er ist nach der Operation zur seelenlosen mechanisierten »Nummer« geworden. Über diesen äußeren Aufbau hinaus, bilden Zahlensymbole und Formeln sowie mathematische und geometrische Metaphern und Bilder eine vielschichtige bedeutungstragende Struktur, die vielfältige innere Zusammenhänge schafft, den Leser zu ihrer Entschlüsselung und Deutung einlädt.

Wirkung:
Samjatin begründete mit seinem Roman die Anti-Utopie bzw. Dystopie als literarisches Genre und nahm die Werke u. a. von Aldous Huxley, George Orwell und Ray Bradbury vorweg, beeinflusste sie.
 
  © seit 2009 bei Christian Klopfer